Celui qui aime un reflet sans savoir qu’il est le sien ignore en fait qui il est.
Julia Kristeva
Liebe V!
Anstatt dich bei deinem Namen zu nennen, will ich dich so nennen, wie er dich in seinen Briefen nannte: Liebe V! Liebste V! Geliebte V!
Ich gestehe, ich las seine Briefe an dich wie einen Fortsetzungsroman. Es gab kein Briefgeheimnis, in das ich hätte eindringen können. Es gab keine Grenze, die ich hätte wahren müssen. Ich wünschte mir nicht, dass seine Briefe an mich gerichtet gewesen wären. Es handelte sich nicht um seine private Korrespondenz. Er schrieb einer fiktiven Person. Er arbeitete an einem Briefroman. Die Blätter lagen irgendwo auf seinem Schreibtisch, zwischen Manuskripten und Fotografien.
Ich will deinen Namen abkürzen, so, wie er es in seinen Briefen an dich tat. Diesen Namen, den er dir gegeben hatte, diesen Namen, mit dem er dich erfunden zu haben schien. Als schriebe er keiner Frau, als schriebe er der Vision einer Frau, an die er in seinen Briefen glauben wollte. Liebe Vision! Liebste Vision! Geliebte Vision! Dein Bild hatte er dabei vor Augen, allerliebste Vision!
Ja, er hatte mir von dir erzählt. Und er hatte es zugleich vermieden, mir von dir zu erzählen. Es war zu der Zeit, zu der ich bemerkte, dass er abends oft ausging. Elegant gekleidet, mit einer Kamera in der Hand, traf ich ihn im Treppenhaus. Ich verließ meine Wohnung, wenn ich hörte, dass er seine Tür im oberen Stockwerk schloss. Ich stand im Flur, wie zufällig, mit dem Schlüssel in der Hand, und grüßte ihn, wenn er auf dem Treppenabsatz anhielt. Ich gehe ins Theater, sagte er, in eine Revue. Als müsse er sich bei mir dafür rechtfertigen, als müsse er sich mir erklären.
Du interessierst dich für die leichte Muse? fragte ich. In einem höhnischen Ton, da dieser Frage keine andere Antwort folgen konnte als die, die ich nicht hören wollte. Alles Spielerische ist mir fremd. So wie ihm. Aus diesem Grund hatte ich mich auf ihn eingelassen. Über ein Buch zu sprechen, über einen Film, über ein Theaterstück. Abends am offenen Fenster zu zweit auf seinem Bett zu liegen, in den Himmel zu starren, der schwer über der Stadt hing.
Er lachte. Und erzählte mir eine dieser Geschichten, die weder erfunden sind noch wahr. Ich arbeite an einem Fotoroman, sagte er. Er hielt sich am Geländer fest, stellte sich auf die Fußballen, wippte vor und zurück. Als stünde ein anderer vor mir, ein Mann, den ich nicht kannte, der so aussah wie einer, den ich zu kennen glaubte. Ich protestierte stumm gegen meine Verunsicherung. Ich glaubte nicht nur, ihn zu kennen. Ich wusste, dass ich ihn kannte. Ich kannte ihn besser als er sich selbst kannte, jetzt, in diesem Augenblick, in dem er wie verkleidet im Treppenhaus stand und einen Text aufsagte, der aus dem Stück zu stammen schien, das wir zu spielen hatten. Ich übernahm meinen Part, die Rolle, für die ich mich entschieden hatte, als ich den Hausflur betrat. Fast war er an mir vorbei. Schwarzer Anzug, das metallische Stakkato seiner Absätze. Ich schaute ihn an, er zögerte, ich fragte nicht weiter, da winkte er mir zu, die Haustür fiel mit einem magnetischen Klacken ins Schloss, das Flurlicht erlosch. In der Dämmerung sprang mich das schwarze Tier an, aber ich schüttelte es rasch ab. Warum hätte ich ihm folgen sollen?
Ich konnte die Ahnung, dass er mir etwas erzählte, das eine andere Erzählung barg, nicht übersetzen. Ich betrachtete seinen weißen Hemdkragen, seinen Adamsapfel, der beim Erzählen auf- und abhüpfte. Ich bemerkte den Glanz, der auf ihm lag. Seine Augen glänzten, er hielt mir die Kamera entgegen, während er von seinem Roman sprach. Als wolle er mir beweisen, dass er die Wahrheit sagte, die ganze Wahrheit, nichts als die Wahrheit.
(Ende der Leseprobe)