Marillenlikör, Eierlikör und vor allem zu viel Jägermeister trinkt die Mutter der sechsjährigen Elisa Mitte der 1960er Jahre Nacht für Nacht, bevor sie zu einer lautstarken Maria-Callas-Imitation anhebt, während der Vater auf einer scheinbar endlosen Dienstreise das familiäre Drama ignoriert. Das Kind erfindet für sich die Zwillingsschwester Alise und beginnt, in der dritten Person Singular seine „wahre Geschichte“ zu schreiben, die es in der Ich-Form beenden kann, als es kein Kind mehr ist. Sarkasmus und Ironie, sprachliche Verdichtungen und metaphorische Verschiebungen zeichnen die Prosa von „Fehlversuche“ aus: Ein Buch über ein Kind, das explizit kein Kinderbuch ist.
Pressestimmen
Derzeit arbeitet Elke Heinemann an dem Roman „Fehlversuche“, der im Frühjahr 2018 erscheinen wird. Der Auszug, den sie für unsere Reihe „Das erste Mal“ ausgewählt hat, führt sie zurück in die 60er Jahre. Ein schonungsloser Blick zurück – ohne Zorn, aber auch ohne Gnade.
Elke Heinemanns neuer Roman „Fehlversuche“ erzählt von einem kleinen Mädchen, das in den 1960er Jahren in einer „Vater-Mutter-Kind“-Familie im Ruhrgebiet aufwächst: Es gibt Schrebergärten, Fabrikschlote und Fördertürme, aber auch einen Stadtpark. Und Ferienreisen, sogar bis nach Italien. Dazu ein kleines Mädchen, das sich wünscht, verwechselt worden zu sein, und sich ein anderes Leben in einem „Harmoniepark“ ersehnt.
Auch in ihrem aktuellen Roman Fehlversuche, 2018 erschienen in der edition taberna kritika, geht es um Erfindung und „wahre Geschichte“. Fehlversuche will dezidiert kein Kinderbuch sein, obwohl es nur von einem Kind handelt. Auf atemberaubend kurzer Strecke wird darin die drastische und verzweifelte Ich-Werdung der kleinen Elisa in einer deformierten Kleinfamilie geschildert: „… denn die Eltern lehnen aus Gründen der Gerechtigkeit gegenüber ihrer Kindheit jedes Zugeständnis an die Kindheit des eigenen Kindes kategorisch ab.“ Das sitzt.
Was „Fehlversuche“ ist, ist eine Überraschung. Unabhängig von den Spezifika der Handlung von Kind-versus-Milieu bietet uns Elke Heinemann einen Anlass, darüber nachzudenken, ob wir es da mit einem literarischen Ausweis der Wiederkehr überwunden geglaubter gesellschaftlicher Sprachen über Zustände zu tun haben. Lustig ist Fehlversuche, obwohl es überhaupt nicht lustig ist.
Ein sarkastischer Text über eine freudlose Kindheit, in dem viele sehen, was schlecht läuft, aber alle wegschauen.
Der oft leichtfertig dahingesagte Satz „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit“ bekommt durch die Lektüre von Elke Heinemanns neuem Roman gleich mehrere Fragezeichen. Mit ihrer schonungslosen, rhythmisch hämmernden, messerscharfen Sprache zerrt die Autorin ihre Leser an den Rand eines Abgrunds. Die Kraft der Literatur besteht auch darin, Menschen in Elend und Ausweglosigkeit eine Sprache zu geben. Sie kann Leid vielleicht nicht lindern. Vielleicht aber doch. Auch davon erzählt dieses Buch. Mehr wird nicht verraten. Aber Leser wissen dann, dass der Lektüreweg sich mehr als gelohnt hat.
Für uns als Jury ist Elke Heinemann der Idealfall einer Preisträgerin, hat sie doch einerseits eine umfangreiche und formal wie thematisch weit gefasste Veröffentlichungsliste von hoher Qualität, und andererseits liegt ein aktueller, 2018 veröffentlichter Roman vor, der allein schon unbedingt preiswürdig ist: Fehlversuche ist ausdrücklich Kein Kinderbuch – so der Untertitel –, obwohl er von einer Kindheit erzählt. Will man die Leitmotive dieses schmalen großen Romans knapp zusammenfassen, genügt ein Blick auf die Umschlagrückseite, wo sie in Form von Hashtags aufgelistet sind: fantasie, ich-erzählung, identität (motiv), kind (motiv), märchen (motiv), resilienz (motiv).
Die chronologisch und in starken Bildern erzählte Handlung des Romans ist, zum eigenen Erschrecken, dennoch auch unterhaltsam. Der ausgeprägte Wortwitz nimmt den entsetzlichen Vorkommnissen etwas von dem Horror. Das Kind Elisa trägt in sich eine tiefe eigene Wahrheit. Wir lesen mit angehaltenem Atem.
Das Ruhrgebiet ist ein metaphorischer Schauplatz, ein Ort der Brüchigkeit. In der Zeit, in der ich dort gelebt habe, gab es immer wieder einen Bergrutsch. Dieses Gebiet war so erschütterbar wie die Kindheit, die ich beschreibe.
Leseempfehlungen
Gespräch
Telegramme-Gespräch „Synthetik und Vorbild“: Entre nous, Elke Heinemann! 03.04.2018: Neue Telegramme
Radio-Lesungen
WDR 3, 20.-25.11.2017 + 01.-06.07.2019
Vorabdruck
Romanauszug in: Zeno. Jahrheft für Literatur und Kritik 38 (Dezember 2017/Januar 2018): Zeno
Sonstiges
Liste eingesandter Bücher in: Sinn und Form, Heft 5/2018: Sinn und Form
Lesereise durch das Ruhrgebiet:
11.06.19, 20 Uhr: Buchhandlung Proust und Literarische Gesellschaft Ruhr Essen
12.06.19, 19 Uhr: Literaturhaus Herne Ruhr
13.06.19, 19.30 Uhr: Literaturhaus Dortmund
14.06.19, 19 Uhr: Literaturhaus Oberhausen